1/18/2019

Die Minimierung des Minimalen vorbei am Grundgesetz. RAs der Bundesregierung Dr. Karpenstein und Dr. Kottmann denken ausserhalb der Box (BVerfG 1BvL7/16)

In ihrem 90-seitigen Papier pinkeln die Rechtsanwälte der Bundesregierung Dr. Ulrich Karpenstein und Dr. Matthias Kottmann zunächst einmal auf den Seiten 4 - 6 das Gothaer SG an. Also das übliche Signalling wir haben den Durchblick und die anderen haben nur Schriftstücke übernommen. Watch us!

Soviel erkennen die RAs an:
(23)  Der verfassungsrechtlich garantierte Leistungsanspruch auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums erstreckt sich nur auf die unbedingt erforderlichen Mittel zur Sicherung sowohl der physischen Existenz als auch zur Sicherung eines Min- destmaßes an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben.
 Okidokey, aber dann wird es si­byl­li­nisch, denn eigentlich ist das Grundrecht nicht per se vorhanden, ja es ist unverfügbar (sic!) und muss erst erstanden werden durch den Abschluss eines (Arbeits)Vertrags.
(24) Das Grundrecht ist dem Grunde nach unverfügbar und muss durch einen Leistungsanspruch eingelöst werden, ...
Diese nassforsche Behauptung machte einige Richter in Karlsruhe perplex. Nett ist dieser Paragraph mit abschliessender Zirkelbegründung.
(25) Vor diesem Hintergrund muss sich die Minderung von Leistungen - wie dies bei der Anwendung von Sanktionenregelungen geschieht - nicht an den Vorgaben für die Rechtfertigung von Eingriffen in Freiheitsrechte messen lassen. Erst recht nicht ist darin ein „Antasten" der Menschenwürdegarantie des Art. 1 Abs. 1 GG zu sehen, das keiner Rechtfertigung zugänglich wäre. Kurz: In der Nichtgewährung einer staatlichen Leistung liegt kein Grundrechtseingriff, weil die abwehrrechtliche Dimension der Grundrechte nicht betroffen ist.
(28) Bereits die Menschenwürdegarantie als individualrechtlicher Baustein des Rechts auf ein Existenzminimum ist auch durch den Begriff der Eigenverantwortung geprägt. Sie geht von der Vorstellung des grundsätzlich zur Freiheit befähigten und zu eigenverantwortlicher Lebensgestaltung begabten Menschen aus, der sich kraft seiner Willensfreiheit regelmäßig zwischen Rechtsgehorsam und Rechtsverstoß entscheiden kann.
Ob er damit nicht die Menschenwürde unter Abwägungsvorbehalt stelle, fragte Berichterstatterin Susanne Baer.
(30) Der Grundsatz der Eigenverantwortung ist auch im Sozialstaatsprinzip aus Art. 20 Abs. 1 GG verankert.
Nein, denn dort heisst es lediglich: "Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat".

Die RAs nehmen nonchalant hin, der Regelbedarf "reiche theoretisch aus". Allerdings weiss man bei diesem Hartz 4 Gesockse nie so recht, ob die sich nicht gleich beim nächsten Discounter an der Kasse ein paar Jägermeister Flachmänner per 'fiat' (manche nennen das auch Geld) erwerben oder die Shisha Bar verqualmen.
(63) ... Demnach stellt der Gesetzgeber mit dem Regelbedarf einen Geldbetrag zur Verfügung, der theoretisch ausreicht, um bestimmte Ausgabenposten zu bestreiten, die er als für den Lebensunterhalt notwendig ansieht. Dass die Leistungsberechtigten diesen Betrag tatsächlich im genannten Sinne einsetzen, kann das Gesetz indes - außerhalb des § 24 Abs. 2 SGB II— nicht sicherstellen.
Es folgt die Begründung ("mithin"), die keine ist, dass der Regelbedarf ohnehin so viel pekuniären Spielraum bietet, dass finanzielle Sanktionen eigentlich gar nicht spürbar sind. Das liest sich so:
(64) Mithin ist der Regelbedarf so angelegt, dass Mehrausgaben (gegenüber dem statistischen Durchschnittsfall) in einem Bereich durch Minderausgaben in einem anderen aufgefangen werden können und müssen. Verwenden Berechtigte ihre monatlichen Leistungen teilweise für Ausgaben, die vom Gesetzgeber als nicht notwendig angesehen werden, so steht ihnen für diejenigen Posten, die bei der Bemessung des Regelbedarfs berücksichtigt wurden, entsprechend weniger zur Verfügung. Nicht anders ist es zu beurteilen, wenn sich Leistungsberechtigte in Kenntnis der Rechtslage dafür entscheiden, eine Minderung ihrer Leistungen gemäß § 31 a SGB II in Kauf zu nehmen, um eine bestimmte Mitwirkungsobliegenheit nicht zu erfüllen.
Eccoci, da isses. Vor allen Dingen steht Hartz 4lern ja noch die Liquidität des "Ansparpotentials" zur Verfügung.
(66) Vor diesem Hintergrund führt eine Minderung um 30 Prozent des maßgebenden Regelbedarfs regelmäßig nicht dazu, dass unaufschiebbare Bedarfe nicht mehr gedeckt werden können. Vielmehr sind Betroffene in der Lage, entweder auf bereits angesparte Beträge oder aber auf das monatliche Ansparpotential zurückzugreifen.
Bei Rn. 67 stimmen die Anwälte dann so langsam das Hartz 4 Pack darauf ein, im Grunde genommen doch lediglich fleischwurstfressende Humanresource zu sein, der ein kulturelles, literarisches Interesse irgendeiner Natur nicht unterstellt werden sollte und wenn, wäre das als Bonus zu sehen, ...
(67) Drittens sind in der Höhe des Regelbedarfs auch solche Ausgabeposten berücksichtigt, die der Pflege zwischenmenschlicher Beziehungen sowie der Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben dienen. Das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums umfasst als einheitlicher Gewährleistungsanspruch auch solche soziokulturellen Elemente. Indes genießt der Gesetzgeber insoweit einen weiteren Gestaltungsspielraum als bei Bedarfen, die auf die rein physische Existenz bezogen sind.
... denn es "ist die Annahme gerechtfertigt, dass es sich bei den im Regelbedarf enthaltenen soziokulturellen Elementen regelmäßig nicht um unaufschiebbare Bedarfe handelt", im Gegensatz zu Heringssalat und Toilettenpapier. MAW, Verdis Aida kann ruhig bis 2020 warten.
(68) Auch wenn es sich bei den genannten Bedarfen nicht um frei verfügbare Ausgleichsmasse handelt, ist die Annahme gerechtfertigt, dass es sich bei den im Regelbedarf enthaltenen soziokulturellen Elementen regelmäßig nicht um unaufschiebbare Bedarfe handelt - im Unterschied etwa zu Ausgabenposten wie Nahrungsmittel, Hygiene oder Gesundheitspflege - und damit Einsparungen während des Zeitraums der Minderung potentiell möglich sind. Damit bestünde auch die Möglichkeit, eine sanktionsbedingte Leistungsminderung durch Minderausgaben in diesem Bereich aufzufangen, insbesondere auch deshalb, weil - wie oben dargelegt - dem Gesetzgeber bei der Ausgestaltung und dem Maßstab an ein Existenzminimum im Zusammenhang mit Sanktionenregelungen ein größerer Spielraum zukommt (s.o. Rn. (48)). Die Annahme, mit Sanktionen belegte Personen könnten für einen begrenzten Zeitraum von drei Monaten (§ 31 b Abs. 1 S. 3 SGB II) Einschränkungen im Hinblick auf ihre Teilhabe am öffentlichen Leben hinnehmen, ist von diesem Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers gedeckt.
Auf S. 29 werden die Regierungsanwälte ganz keck:
1. Grundrecht nicht einschlägig
Zur Bedeutung und Synonymen von "einschlägig" siehe Duden.
(108) All das ist Ausfluss des Subsidiaritätsprinzips, das Bestandteil des in Art. 20 Abs. 1 GG verankerten Sozialstaatsprinzips ist. Die grundsätzlich solidarische Finanzierung des Systems ist ebenfalls Ausfluss dieses Verfassungsprinzips. Damit wiederum verbunden ist das Interesse der Allgemeinheit, die finanzielle Stabilität des Systems zu sichern und keine unverhältnismäßigen Belastungen der Steuerzahler zu verursachen.
Das ist eine kühne Begründung. Die potentiell wackelige "finanzielle Stabilität" zu sichern unter Missachtung des Grundgesetzes.

Ganz nebenbei, die solidarische Finanzierung gilt unter dem Zwangsmantel des Euro. Sie gälte nicht bei einer souveränen Währung zu Deutsche Mark Zeiten.


Wenden wir uns aus diesen dürren, sauerstoffarmen rechtsanwaltlichen Gefilden etwas philosophischerem zu. Wie wärs mit Habermas in diesem Zusammenhang der Verfassungsrechtlichen Prüfung?

Habermas geht zunächst von einem „ungewöhnlich hohen Legitimationsanspruch“ des Rechtsstaates aus: „Er mutet seinen Bürgern zu, die Rechtsordnung nicht aus Furcht vor Strafe, sondern aus freien Stücken anzuerkennen.“ Die Treue zum Gesetz solle sich demnach aus einer einsichtigen und darum freiwilligen Anerkennung des normativen Anspruches auf Gerechtigkeit ergeben, den jede Rechtsordnung erhebt. Diese Anerkennung stütze sich normalerweise darauf, dass ein Gesetz von den verfassungsmäßigen Organen beraten, beschlossen und verabschiedet worden ist.

Im Anschluss an das insbesondere von Kant propagierte Vernunftrecht folgt auch Habermas dem Argument, dass nur solche Normen und Prinzipien gerechtfertigt sind, „die ein verallgemeinerungsfähiges Interesse zum Ausdruck bringen und daher die wohlerwogene Zustimmung aller Betroffenen finden können.“ Daher wird diese Zustimmung auch an eine „Prozedur vernünftiger Willensbildung“ gebunden. Daraus folgt: „Ein demokratischer Staat kann, weil er seine Legitimität nicht auch schiere Legalität gründet, von seinen Bürgern keinen unbedingten, sondern nur einen qualifizierten Rechtsgehorsam fordern.“

Vor dem Hintergrund dieser Prämissen wird verständlich, dass auch ziviler Ungehorsam „nur unter den Bedingungen eines im Ganzen intakten Rechtsstaates“ auftreten kann. Allerdings dürfe der Regelverletzer seine „plebiszitäre Rolle des unmittelbar souverän auftretenden Staatsbürgers nur in den Grenzen des Appells an die jeweilige Mehrheit übernehmen“, denn „im Unterschied zum Resistance-Kämpfer erkennt er die demokratische Legalität der bestehenden Ordnung an.“

Die Möglichkeit und Rechtsmäßigkeit zivilen Ungehorsam entsteht schlicht aus der Beobachtung, dass auch im demokratischen Rechtsstaat legale Regelungen illegitim sein können – gleichwohl nicht „nach Maßgabe irgendeiner Privatmoral, eines Sonderrechts oder einen privilegierten Zugangs zur Wahrheit“, sondern allein auf der Grundlage „der für alle Bürger einsichtigen moralischen Prinzipien, auf die der moderne Verfassungsstaat die Erwartung gründet, von seinen Bürgern aus freien Stücken anerkannt zu werden.“

In Sophokles’ Tragödie Antigone wird diese Argumentation sehr gut sichtbar. Antigone beerdigt ihren Bruder Polyneikes entgegen dem Befehl des Königs Kreon, ihres Onkels. Antigone, die sich in ihrem Akt gewaltfrei einem höheren Recht verpflichtet fühlt, übt hier also eindeutig zivilen Ungehorsam:


Kreon: „Und du brachtest es über dich, dieses Gesetz zu übertreten?"

Antigone: „Nicht Zeus hat mir dies verkünden lassen
noch die Mitbewohnerin bei den unteren Göttern, Dike,
die beide dieses Gesetz unter den Menschen bestimmt haben,
und ich glaubte auch nicht, das so stark seien deine
Erlasse, dass die ungeschriebenen und gültigen
Gesetze der Götter ein Sterblicher übertreten könnte.
Denn nun nicht jetzt und gestern, sondern irgendwie immer
Lebt das, und keiner weiß, wann es erschien."

Habermas geht also auch davon aus, dass die Verwirklichung anspruchsvoller Verfassungsgrundsätze mit universalistischem Gehalt „ein langfristig, historisch keineswegs gradlinig verlaufender, vielmehr von Irrtümern, Widerständen und Niederlagen gekennzeichneter Prozess ist.“ Wer wolle also behaupten, dass diese (Lern-)Prozesse heute abgeschlossen sind?

Auch der Rechtsstaat im Ganzen ist längst noch nicht ein fertiges Gebilde, sondern Habermas sieht ihn „als ein anfälliges, irritierbares Unternehmen, das darauf angelegt ist, unter wechselnden Umständen eine legitime Rechtsordnung, sei es herzustellen oder aufrechtzuerhalten, zu erneuern oder zu erweitern.“

So seien auch die Verfassungsorgane selbst – gerade weil dieses Projekt unabgeschlossen ist – von dieser „Irritierbarkeit“ keineswegs ausgenommen.

mehr hier

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen

Hinweis: Nur ein Mitglied dieses Blogs kann Kommentare posten.